Aufhänger des Buches ist das sogenannte Windtelefon in einem Garten in Ôtsuchi an der Küste Nordostjapans. Das ehemalige Telefonhäuschen, dessen Telefon sichtbar nicht angeschlossen ist, wird von Hinterbliebenen der Tsunami-Katastrophe genutzt, um nach japanischer Sitte mit den Verstorbenen zu reden.
Protagonistin Yui ist zu Beginn der Geschichte 31 Jahre, Radiomoderatorin und stößt durch einen ihrer Beiträge auf die Telefonzelle, in dem sich Betroffene den Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen von der Seele reden können. „Verlust“ ist auch ihr persönliches Thema, denn sie ist ebenfalls eine Betroffene: Am 11. März 2011 hat sie Mutter und Tochter verloren. Auch Yui muss nach der Katastrophe gemeinsam mit anderen Überlebenden monatelang auf engstem Raum in einer Sporthalle ausharren, bis sich ihr neue Perspektiven eröffnen. Doch selbst Jahre nach dem Unglück kann sie den Anblick des Meeres nicht ertragen, weil sie in diesen Momenten wieder die Zustände nach dem Ende des Tsunami und der anschließenden Brände vor sich sieht – die Leichen, den Unrat, die Zerstörung.
Im Gegensatz zu Takeshi betritt sie die Telefonzelle im „Bell Gardia“ am Hang des Kujirayama in Ôtsuchi an der Küste Nordostjapans nicht, sondern schlendert nur durch den Garten. Sie hat (noch) keinen Mut, sich der Vergangenheit zu stellen, schöpft hier aber dennoch Kraft zum Leben.
Protagonist Takeshi Futjita-San ist 37 und Chirurg in Tokio. Er hat seine Ehefrau aufgrund einer Krebserkrankung verloren und kümmert sich jetzt (gemeinsam mit seiner Mutter) um die 3-jährige Tochter Hana, die seit dem Tod der Mutter kein Wort mehr gesprochen hat. Dass sich Yui und Takeshi durch die Telefonzelle und ihre (gemeinsame) Verarbeitung der Trauer näherkommen werden, ahnt der Leser/Hörer schon sehr schnell. Aber dass solche Neuanfänge eben Zeit brauchen, sich schleichend vollziehen und man Mut braucht, um einen Neuanfang zu wagen, zeigt die Autorin auf sehr einfühlsame, leise Weise.
Der Leser lernt in "Die Telefonzelle am Ende der Welt" unzählige Menschen kennen, die Schuldgefühle haben, weil sie im Gegensatz zu ihren Lieben überlebt haben. Menschen, die lernen müssen, mit Verlusten fertigzuwerden und nach vorn zu blicken. Menschen, die mit ihrer Wut klarkommen müssen, weil ihr Partner ums Leben gekommen ist und sie nun mit ihren Problemen und Sorgen allein dastehen. Die „Gespräche“ über das nicht angeschlossene Telefon entpuppen sich dabei vielfach als sehr heilsam, weil sie sich ihre Gefühle von der Seele reden können. Die Telefonzelle hilft den Betroffenen, sich an die Endlichkeit der Dinge zu gewöhnen – gerade denen von der Naturkatastrophe betroffenen Hinterbliebenen, die sich auf ihren Verlust ja nicht vorbereiten konnten.
Obwohl die Autorin keine sehr bildhafte Sprache verwendet, um die Umwelt zu beschreiben, und dem Zuhörer die entsetzlichen Details im Nachgang der Naturkatastrophe erspart, ahnt man, wie entsetzlich die Zustände damals gewesen sein müssen. Wie es war, monatelang auf sechs Quadratmetern in Sporthallen zu leben, keine Privatsphäre zu haben und die Trauer der anderen hautnah mitzuerleben. Im Gegensatz dazu schaut die Autorin aber sehr genau hin, wenn es um die unterschiedlichen Arten von Trauer und Abschiednehmen geht. Mit poetischer Schönheit und Liebe zum Detail beschreibt Messina dabei, wie zerbrechlich die Herzen und Seelen der Menschen sind, wie sie aber auch heilen können und wie die einzelnen Figuren langsam Zuversicht entwickeln und neue Stärke finden. Der Leser glaubt das Leid und den Schmerz derer schier mitempfinden zu können, die die Telefonzelle aufsuchen. Dabei ist das Buch aber auf keiner Seite deprimierend oder voller Gefühlsüberschwänge. Im Gegenteil. Die Hoffnung scheint dank der klaren Sprache immer wieder durch – ob durch die Schönheit des „magischen“ Gartens Bell Gardia, in dem sich die Telefonzelle befinden, durch die Liebe zur Musik und zu geselligem Essen oder durch die Begegnungen und den Austausch mit anderen.
Gespickt sind viele Kapitel mit amüsanten, nachdenklich machenden, hintergründigen Listen und Erläuterungen, die den Leser mit Dingen vertraut machen, die für die Figuren und die japanische Kultur und Gesellschaft relevant sind und den Inhalt des jeweiligen Kapitels ergänzen bzw. erläutern. So erfahren wir z. B. die zehn intensivsten Erinnerungen Takeshis an seinen Vater oder Dinge, die Takeshis Frau Akiko tat, wenn sie sich über ihren Mann ärgerte. Wir erfahren die Songs, die in der Radiosendung gespielt wurden, in der Yui Trauernde interviewt hat, oder lernen ihre Lieblingssongs aus dem Genre des Bossa Nova kennen. Wir erfahren, welche Süßigkeiten Yui und Hana auf dem Rückweg nach Tokio kaufen und welche Kleidung Yuis Mutter und ihre kleine Tochter am Tag der Naturkatastrophe trugen. Und wir lernen auch die Tradition kennen, Müttern nach der Geburt die Nabelschnur zu überreichen, weil diese Glück bringt.
Mein Fazit: Ein berührendes Buch für alle, die schöne, ruhige, poetische Literatur lieben. Aber auch für Menschen, die einen Verlust erlitten haben und sich verzweifelt fragen, wie man mit der „Leerstelle“ umgehen und wie man weiterleben bzw. wieder leben kann.