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George Saunders beantwortet Fragen seines Lektors

Warum diese Geschichte? Wie kamen Sie darauf, einen Roman zu schreiben, der 1862 spielt, mit Abraham Lincoln im Mittelpunkt?

Das ist durch eine Bemerkung entstanden, die ich hörte, als Bill Clinton Präsident war. Wir waren in Washington, D.C., und fuhren am Friedhof von Oak Hill vorbei, und eine Freundin sagte, Lincolns junger Sohn, der zu Zeiten des Bürgerkriegs starb, liege hier begraben; Zeitungen hätten damals berichtet, Lincoln sei mehrfach zur Gruft zurückgekehrt, um die Leiche seines Sohnes in den Armen zu halten. Mir stand sofort ein Bild vor Augen: eine Verschmelzung aus dem Lincoln-Memorial-Denkmal in Washington und der Pietà. Dieses Bild trug ich jahrelang mit mir herum und versuchte (ohne Erfolg), es in ein Theaterstück einzubauen. Die schiere Beharrlichkeit dieses Bildes in meinem Kopf überzeugte mich schließlich davon, es für einen Prosatext zu verwenden.

Sie beschlossen also, diese historische Tatsache als Keim, als Grundlage von … was genau zu benutzen? Wussten Sie anfangs schon, dass das Ihr erster Roman werden könnte?

Eigentlich nicht. Erst einmal war es nur ein Versuch … diese Idee umzusetzen. Um festzustellen, ob ich es endlich schaffen würde, das Interesse daran zu verlieren. Aber als ich einmal losgelegt hatte, merkte ich, es wuchs eher. Und irgendwann, als der Text immer länger wurde, begriff ich, diese Geschichte braucht, ja, einen längeren Bogen.

Einen Schritt zurück. Ich sollte vorausschicken, dass Sie keinen traditionell erzählten historischen Roman über Abraham Lincoln geschrieben haben. Vielmehr sind die meisten Figuren in diesem Buch faktisch tot.

So ist es. Ich glaube, in der eigentlichen Handlung der Geschichte gibt es nur drei Lebende: Abraham Lincoln, einen Nachtwächter und eine Frau in einem Haus gegenüber vom Friedhof. Eine der Herausforderungen – auf der handwerklichen Ebene – bestand daraus, dass in der historischen Wirklichkeit der einzige tatsächlich anwesende Mensch, als Lincoln nachts die Gruft seines Sohnes Willie besuchte, Lincoln selbst war. Für die notwendige dramatische Spannung brauchte die Geschichte noch jemanden (oder etwas), der (oder das) anwesend war. Vor vielen Jahren hatte ich an einem schließlich aufgegebenen Buch gearbeitet, das auf einem Friedhof upstate New York spielte – wo verschiedenste tote Leute sich unterhielten, à la Unsere kleine Stadt von Thornton Wilder –, und ich beschloss, diese Struktur hervorzuholen und als Friedhof eben Oak Hill zu nehmen. Es sind also, wegen der handwerklichen Notwendigkeiten des Buches, Gespenster im Spiel, mit anderen Worten, dieser Roman handelt vom Tod. Ich finde den Tod unglaublich interessant und erschreckend und lohnend als Thema für einen Schriftsteller. Vielleicht am interessantesten überhaupt. Die Tatsache des Todes färbt jeden Augenblick unseres Lebens ein (oder sollte es jedenfalls). Nicht auf eine morbide Weise, sondern eher so: Wenn wir wissen, wir müssen eine Party verlassen, macht sie das viel bedeutsamer und schöner. Doch dann musste ich mich fragen: „Was für Gespenster? Was macht ein Gespenst aus? Warum halten sich genau diese Wesen hier auf?“ Ich dachte an die Worte Jesu im gnostischen Thomas-Evangelium: „Wenn du hervorbringst, was in dir ist, wird das, was du hervorbringst, dich retten. Wenn du nicht hervorbringst, was in dir ist, wird das, was du nicht hervorbringst, dich zerstören.“ Dies sind Menschen, die im Leben nicht hervorgebracht haben, was in ihnen war.

Kommen wir zur Erzählweise dieses Romans. Sie machen etwas, das ich, glaube ich, noch nie in einem Prosatext gesehen habe – ich würde es am ehesten mit oral history oder einem griechischen Chor vergleichen. Eine Reihe Figuren melden sich nacheinander zu Wort. Und nicht nur das, Sie haben auch einiges an tatsächlicher Geschichtsschreibung verarbeitet. Und nicht nur das, Sie haben auch einiges von dieser „tatsächlichen“ Geschichtsschreibung erfunden, so dass wir nie genau wissen, was echt ist und was fiktional, und ich bin mir nicht so sicher, ob es am Ende darauf ankommt. Das Ganze ist ein Wirbel aus redenden Gespenstern, dazu Historiker und Zeitgenossen, die uns Hintergründe zu Lincolns Leben in dieser Zeit liefern, und ich frage mich, wie Sie darauf gekommen sind, diese Geschichte auf diese Weise zu erzählen.

Es geschah eher schrittweise und in Wiederholungsschleifen –ein typischer Fall von „Form entspricht Notwendigkeit“ oder „das Notwendige ist die Mutter der Erfindung“. Zum Beispiel erkannte ich recht früh, dass die Anwesenheit der Gespenster einen gewissen Ballast notwendig machte. Eine Passage mit Gespenstern ist wie eine Traumpassage – die Leserin begreift, dass innerhalb dieses Bereichs alles möglich ist. Und das kann dazu führen, dass sie weniger an die fiktionale Wirklichkeit glaubt. Deshalb brauchte ich „wirkliches“, „wahres“ Material in dem Buch, um eine Vertrauensbasis für die Leser zu schaffen und regelmäßig die Glaubwürdigkeit wiederherzustellen. Ich stellte fest, dass ich immer wieder über die historische Wirklichkeit von Lincolns Besuch der Gruft nachdachte – über den Empfang, den die Lincolns vor Willies Tod im Weißen Haus gaben, die Einzelheiten von Willies Beerdigungsgottesdienst und tatsächlicher Beerdigung. Aber wie konnte ich diese (traurigen, bewegenden) Anekdoten in das Buch bringen, ohne dass, na ja, irgendein Totengräber sich auf seine Schaufel lehnt und uns lauter Zeug erzählt, das er unmöglich gewusst haben kann? (Ja, ich hab’s ausprobiert.) Dann dachte ich: „Na, woher weiß ich denn diese Anekdoten?“ Antwort: „Ich hab’s aus einem Buch.“ Das war ein wichtiger Moment. Mir wurde klar, dass ich genau die historischen Leckerbissen, durch die ich von der historischen Wirklichkeit erfahren hatte, direkt in den Text bringen konnte, freilich bearbeitet und strategisch arrangiert. Damit würde die Leserin über dasselbe Grundlagenwissen verfügen wie ich und in derselben Form, wie ich es bekommen hatte. Das fühlte sich ehrlich an – eine effiziente Lösung für eine echte narrative Notwendigkeit. Dieser Prozess erzwang eine Erweiterung meiner Definition des „Romanschriftstellers“. Ich weiß noch, wie ich einen langen Herbsttag damit zubrachte, eines jener ersten historischen Kapitel zu arrangieren und umzuarrangieren, einen Tag, an dem ich nichts „schrieb“. Aber als ich dann die neue Version des Kapitels mit der ursprünglichen verglich, war ganz eindeutig, dass all diese Arbeit doch etwas bewirkt hatte – die Abendversion war lebendiger und zwingender. So erweiterte sich meine Definition eines Romanschriftstellers gewissermaßen in Richtung Kurator. Und, ganz recht, dieser Prozess führte schließlich auch dazu, einige historische Elemente zu erfinden – diese Kapitel sollten sich wie die verinnerlichte, verdichtete Fassung jener Anekdoten lesen, die ich all die Jahre im Kopf herumgetragen hatte. Wenn ich mir jetzt die Form des Romans anschaue, kann ich, ehrlich gesagt, nicht mehr genau sagen, wie sie entstanden ist. Das ging alles sehr … schrittweise. Vier Jahre lang steckte ich ganz tief drin in dieser Arbeit. Wenn sich ein Problem stellte, wurde es gelöst, das daraus entstehende neue Paradigma warf neue Probleme auf, deren Lösung neue Gesetzmäßigkeiten zutage brachte, im Kosmos der Geschichte oder in der fiktionalen Form. Dann musste ich mit den neuen Gesetzmäßigkeiten leben undsoweiter undsofort. Ich wollte dafür sorgen, dass alles, was an der Form vielleicht seltsam wirkte, etwas Notwendiges an sich hatte. Mit anderen Worten, jede formale Erneuerung sollte ehrlich entstehen, im Dienst der sich herausschälenden zentralen Fragestellung des Buches, die in meinem Kopf ungefähr so lautete: „Wie können wir lieben in einer Welt, in der die Gegenstände unserer Liebe so unter Vorbehalt stehen?“

Als Sie mir das erste Mal von dem Titel erzählten, der Ihnen für das Buch vorschwebte, dachte ich sofort: „Lincoln im Bardo. Was für eine wunderschöne Wendung.“ Und dann dachte ich: „Moment. Was ist ein Bardo?“ Können Sie uns das erläutern?

Klar. „Bardo“ kommt aus dem tibetischen Buddhismus und heißt so viel wie „Übergangszustand“. Dieser Begriff wird meist als Zustand zwischen dem Tod und der Reinkarnation in einem nächsten Leben verstanden; unser Bewusstsein funktioniert immer noch, ist aber nicht mehr an den materiellen Körper gebunden. Einmal wurde mir der „Bardo“ als Zustand beschrieben, in dem der Geist ein plötzlich freigelassenes Wildpferd ist. Das hängt natürlich von dem jeweiligen Geist ab – seinen Gewohnheiten und Begehrlichkeiten und Enttäuschungen und Neurosen undsoweiter. In diesem Sinne ist Willie der Lincoln, der sich „im Bardo“ befindet. Aber auch Abe Lincoln schien mir in einem Übergangszustand zu sein. Er war in den Fängen dieser tiefen Trauer, zu einem Zeitpunkt, als das ganze Land verzweifelt von ihm geführt werden wollte – und zwar auf einem Niveau, von dem er selbst noch nicht genau wusste, wie er es liefern sollte. Ich mag den Gedanken sehr, dass, was immer nach unserem Tod mit uns passiert, zwangsläufig damit zusammenhängt, was wir jetzt sind. Es wird von einer überdimensionierten Version unserer Denkgewohnheiten bestimmt. Manche Texte des tibetischen Buddhismus sagen, dass genau das passieren wird, was wir denken, egal was es ist. Denken wir an einen Ort, kommen wir dorthin. Tragen wir eine Angst in uns, dann manifestiert sie sich in einem Wesen, das vor uns Gestalt annimmt. Wir könnten eine visuelle Welt erschaffen, die dem, woran wir am tiefsten glauben, genau entspricht. All das ist … erschreckend. Wir werden so sein, wie wir jetzt schon sind, nur in viel stärkerem Maß.

Der Fluch eines Schriftstellers, der Short Stories schreibt, ist vermutlich, dass alle immer fragen: Wann schreiben Sie denn endlich einen Roman? Tja, und jetzt haben Sie einen Roman geschrieben. Wie war diese Erfahrung, und können Sie sich vorstellen, irgendwann in Zukunft daran anzuknüpfen? (Mit anderen Worten, können wir das möglichst bald wieder machen, bitte?) Hat die längere Form etwas daran geändert, wie Sie an das Schreiben herangehen?

Ich habe beim Schreiben dieses Romans eines gelernt: Ich wollte eigentlich nie „einen Roman schreiben“, aber diesen Roman wollte ich sehr gern schreiben. Die Aufgabe bestand nicht so sehr daraus, irgendwelche allgemeinen Prinzipien des Romanschreibens zu lernen, sondern zu entdecken, welche Verfahren mir dabei nützen konnten, genau diese Geschichte zu erzählen. Und am Ende unterschieden sich diese Verfahren gar nicht so sehr von denen, die ich sonst immer eingesetzt habe. Es kam mir so vor, als hätte ich mein Leben damit verbracht, winzigkleine Maß-Jurten anzufertigen, und auf einmal den Auftrag bekommen, ein Herrenhaus zu bauen. Zuerst denkst du, du brauchst einen ganz neuen Werkzeugkasten voller Fertigkeiten. Und irgendwann wird dir klar, dass du kannst, was du kannst. Und du denkst: „Tja, vielleicht kann ich ja ein Herrenhaus aus einer Reihe verbundener Jurten machen.“ Doch am Ende habe ich all die künstlerischen Probleme dieses Unterfangens einem größeren und ziemlich schlichten Zweck untergeordnet: Was ich zu Papier bringen wollte, sollte jenes Gefühl von Pathos und Schönheit hervorrufen, das mich jedes Mal ergriff, wenn ich mir jene Nacht im Jahre 1862 vorstellte. Wie jeder, der sich näher mit Lincoln beschäftigt, verliebte ich mich in ihn und wollte ihm auch gerecht werden – seiner Vision, seinem Schmerz, seinem Mut. Komischerweise hatte ich die ganze Zeit dasselbe Gefühl, das mich auch über all die Jahre als Autor von Short Stories erfüllte: Ich versuche, so effizient wie möglich eine Geschichte zu erzählen, ohne sie auszupolstern oder mit, ja, leeren Ambitionen aufzublasen – ich lasse mir von der Geschichte erzählen, wie lang sie sein will, und achte darauf, die Vorstellung zu respektieren, die die Geschichte von sich selbst hat.

Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert

Lincoln im Bardo

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